Die Zukunft der Bilder

 

Noch lässt die Revolution auf sich warten. Und ich bin mir auch immer noch nicht sicher, ob ich überhaupt an die glorreiche Zukunft glauben will, wie sie etwa der britische Hollywood Outcast Bernard Rose dem Kino im Zeitalter der digitalen Technik prophezeit. Natürlich ist sein glühender Enthusiasmus erst einmal höchst ansteckend. Und wenn er dann unter anderem von einer Tolstoi-Adaption träumt, für die das zaristische Russland am Computer noch einmal erschaffen wird, ohne dass der Filmemacher auf den aufgeblasenen Apparat der großen Studios zurückgreifen müsste, möchte man diesen Film eigentlich sofort sehen.

 

Sollte Roses Vision von einem technischen Fortschritt, der den Künstler aus den Fesseln kommerzieller Zwänge befreit, jemals Wirklichkeit werden, dürfte man vielleicht zum ersten Mal überhaupt wirklich von einem Independent Cinema sprechen. Nur klingt dies alles in meinen Ohren im Moment noch wie Science Fiction, wie das moderne cineastische Äquivalent zu den hoffnungsfreudigen Zukunftsträumen der 50er und frühen 60er Jahre, nach denen wir unsere Ferien nun schon alle auf dem Mond verbringen müssten.

 

Bis jetzt haben wir noch nichts als einen winzigen Ausblick auf eine mögliche Zukunft der digitalen Bilder bekommen. Eine wilde Verfolgungsjagd durch eine futuristische Stadt muss uns genügen als Startrampe für unsere wildesten Imaginationen. Nur ist „Episode II“ kaum das Werk eines ‚Unabhängigen’. George Lucas mag sich zwar selbst zum independent filmmaker hochstilisieren, nur sind die Mittel, die ihm zur Verfügung stehen, die eines eigenen Imperiums. Was bleibt, ist also vorerst die Gegenwart des digitalen Filmemachens, und die hat kaum etwas gemeinsam mit Bernard Roses Revolutionsgedanken, und selbst George Lucas’ Arbeit an einer industriellen Evolution wirkt wie ein Sonderweg, auf dem ihm letztlich nur die großen Studios folgen werden.

 

Statt Visionen herrschen derzeit nur Ideologien. Noch wartet eine Zukunft, in der einzig seine Phantasie den Möglichkeiten eines Regisseurs Grenzen setzen wird, zwar darauf, von uns erobert zu werden. Aber mit jedem weiteren Film, der die neue Technik einzig und allein im Sinne eines fehlgeleiteten Verständnisses von künstlerischem Realismus instrumentalisiert, rückt diese Zukunft in immer weitere Ferne. Jede Dogma-Diskussion ist ein Ziegel mehr in der Mauer, mit der wir den Weg in die Zukunft verbauen. Auch wenn gewisse Moden und Bewegungen zyklisch zurückkehren, können die Antworten auf die neuen Technologien nicht in vergangenen Ideen liegen. Nur suchen auch die meisten Zuschauer sie vornehmlich dort.

 

2001 liefen mit Andreas Dresens „Halbe Treppe“ und Dominik Grafs „Der Felsen“ gleich zwei deutsche Filme im Wettbewerb der Berlinale, die mit digitalen Videokameras gedreht worden waren. Und die Reaktionen auf sie, auf ihre Ästhetik und auf ihre Ideen, hätten kaum gegensätzlicher ausfallen können. Während Grafs Experiment nicht einmal annähernd den Respekt, um nicht zu sagen die Bewunderung, erfahren hat, der ihm zweifelsohne zusteht und der ihm dann nachträglich wenigstens annäherungsweise zuteil wurde, hat Dresens höchstens noch mit einer überaus peinlichen Doku-Soap zu vergleichender Theater-/Film-Workshop fast nur Begeisterung ausgelöst.

 

Noch heute denke ich mit Entsetzen und Abscheu an die offizielle Pressevorführung von „Halbe Treppe“ zurück, bei der etwa 1000 professionelle Berlinale-Besucher sich offenbar selbst vergaßen und in einen Zustand von beinahe religiöser Ergriffenheit gerieten. Man glaubte, in den schludrigen Bildkompositionen dem ‚wirklichen Leben’ gewahr zu werden. Nur bezweifle ich, dass ein Saal voller Kritiker das Recht hat, vom ‚wahren Leben’ zu sprechen, wenn es um Filme wie „Halbe Treppe“ geht. Zum einen ist Dresens Werk immer noch Fiktion und damit per se von diesem zu trennen; zum anderen ist der Preis, den man unwiderruflich erbringen muss, wenn man sich beruflich mit der einen oder anderen Form von Popkultur beschäftigt, eine Entfremdung von eben diesem ‚wahren Leben’. Wer von den damals im Saal Anwesenden weiß denn wirklich, wie ‚das Leben’ in den Trabantenstädten von Frankfurt an der Oder aussieht. Wir haben natürlich unsere Vorstellungen und Vorurteile. Und darauf baut Dresen auf. Die Beweglichkeit der digitalen Videotechnik und die Intimität, die sie suggeriert, sollen einem Konstrukt, oder deutlicher gesagt, einer Lüge einen Anstrich von Authentizität geben. Dass ein solches Konzept auch heute noch, nach den Lehren der nouvelle vague und all den anderen Realismus- und Wirklichkeitsdebatten der Filmgeschichte, aufgehen kann, gibt mehr als genug Anlass zum Zweifeln und Verzweifeln.

 

Im Grunde müsste man sich gar nicht weiter mit Andreas Dresen beschäftigen. Ein kurzer Blick auf einen Film wie „Nachtgestalten“ reicht schon aus, um alles Wesentliche zu ergründen. Dresen fällt in die natürlich viel zu große Kategorie der deutschen Filmemacher, die – ob sie nun für den kleinen Bildschirm oder die große Leinwand drehen – immer nur Fernsehen produzieren werden. Was bleibt, sind also die Geschichten, von denen er ausgeht, und die Schauspieler, mit denen er sie umsetzt. Harmonieren diese beide Aspekte des Gesamtkunstwerks Film in dem Maße wie in Michael Gwisdeks Szenen in „Nachtgestalten“, dann vergisst man sogar für einen Moment, dass Dresen keinerlei filmische Vision hat, dass er ein Drehbuch einfach nur abfilmt, sich also damit begnügt, Worte zu bebildern. Das ist im Endeffekt natürlich wenig, aber letztendlich immer noch besser als die Ambitionen, die er im Zuge von „Halbe Treppe“ entwickelt hat.

 

Von Improvisation und Demokratie war die Rede. Die Technik, die es erlaubt, ohne ein großes Team zu drehen, die aus natürlichem Licht so viel mehr als eine klassische Filmkamera machen kann, soll die Grundlage bilden für ein Kino, das ganz nah dran ist an den Menschen, das statt Geschichten zu erzählen, das Leben selbst aufzeichnet. Doch in seinem Streben nach dem improvisierten Moment statt nach dem ausgeklügelten set piece, nach Natürlichkeit statt Schein wirkt „Halbe Treppe“ künstlicher als jeder Hollywoodfilm. In seiner Betonung des Zufälligen und seiner so herausgestellten Offenheit verweist der Film so penetrant auf seine Macher, dass man nur ihre Absichten sieht, nicht aber die Menschen, von denen zu erzählen sie nur behaupten.

 

Es mag tatsächlich kein fest vorgeschriebenes Drehbuch gegeben haben, die Dialoge und andere Details mögen sich also im Lauf der Dreharbeiten entwickelt haben, doch diese Art von Improvisation mit dem Leben gleichzusetzen, ist nichts als eine dreiste Lüge. Wie offen „Halbe Treppe“ wirklich für Überraschungen und spontane Wendungen ist, daran lässt seine Dramaturgie nicht den geringsten Zweifel. Alles folgt hier den typischen Mustern einer Seifenoper. Die Schauspieler sind eben nicht die Figuren, sie spielen sie nur; und was sie spielen, wird durch den Begriff Klischee nur unzureichend beschrieben. Lässt man sich nicht von Dresens großen Worten täuschen, wird man sie auf Anhieb als Klone des Personals der „Lindenstraße“ erkennen. Was Dresen und sein Team hier imaginieren und inszenieren, ist dabei genauso herablassend und abscheulich wie jede einzelne Folge dieser Serie.

 

Heute noch darauf hinzuweisen, dass Freiheit nichts bedeutet, wenn man nicht weiß, wie man sie nutzen kann, ist im Prinzip banal. Aber im Blick auf einen großen Teil aller Digital-Video-Filme kommt man nicht umhin, dieses Klischee noch einmal zu bemühen. Andreas Dresen kann noch so viel und noch so häufig von Freiheit und Demokratie sprechen, dies wird sein Versagen nicht maskieren. Die einzige Freiheit, die er sich bei den Dreharbeiten von „Halbe Treppe“ genommen hat, ist eine der Verweigerung. Der Look der digitalen Bilder wird zu einer Ausrede. Was er als Lebensnähe und Authentizität bezeichnet, lässt sich besser mit ästhetischer Indifferenz beschreiben. Dresen hat jenseits des ursprünglichen Konzepts keine einzige künstlerische Entscheidung getroffen. Jede Einstellung des Films verrät einen Regisseur, der nicht die geringe Ahnung und Vorstellung von der Bedeutung eines Kinobildes hat. Nichts ist schwieriger einzufangen als das Leben. Wenn man es in seiner ganzen Komplexität, seinem Wechselspiel aus Chaos und Ordnung, Zufall und Absicht, Absurdität und Bestimmung einfangen will, muss man wie etwa Chantal Akerman bei ihrem grandiosen Dokumentarfilm „De l’autre côté“ ganz genau hinsehen. Der Kader des Bildes wird zu einer Kraft, die alle widerstreitenden Aspekte bündelt, er macht sie für uns wahrnehmbar. In der Kadrierung von „Halbe Treppe“ findet nichts außer der künstlerischen Nachlässigkeit Dresens seinen Ausdruck.

 

Natürlich kann man Dresens ästhetischem Verrat an allem, was Kino sein kann und sein sollte, auch schon heute, in der Frühphase der digitalen Evolution, nahezu unzählige Beispiele von Filmen entgegenstellen, deren Regisseure die neuen Kameras mit Bedacht und Überlegung nutzen. Man braucht nur an die Arbeiten Michael Winterbottoms oder die beiden letzten Spielfilme von Spike Lee zu denken. Und auch wenn man sich gerade im Fall von „Bamboozled“ und „25th Hour“ durchaus vorstellen könnte, dass sie auf Zelluloid beinahe genauso gewirkt hätten, gibt es in ihnen doch Szenen und Momente, die auf einzigartige Weise Gebrauch von der Technik machen. Der raue, oftmals etwas flächige Look, den die meisten Video-auf-Film-Transfers haben, korrespondiert perfekt mit der bitteren politischen Parabel, die Lee in „Bamboozled“ erzählt. Und die fiebrige Intensität von Rodrigo Pietros New York scheint direkt der Wahrnehmung eines Mannes zu entspringen, dem nur noch ein Tag in Freiheit bleibt.

 

Aber selbst bei Filmen wie „Bamboozled“ und „25th Hour“ oder Bernard Roses „ivansxtc“ und Dominik Grafs „Der Felsen“, die beide mehr als nahezu alle anderen auf Digital Video gedrehten Filme ästhetische Maßstäbe setzen, darf man nicht ganz vergessen, dass die neue Technik im Moment vor allem eine Möglichkeit darstellt, Filme relativ preiswert zu produzieren. So kann man sich fragen, ob Spike Lee und Bernard Rose ohne die neuen Kameras in den letzten Jahren überhaupt einen Film hätten realisieren können. Dieser erst einmal rein finanzielle Aspekt definiert gegenwärtig noch die eigentliche Bedeutung der Technik. Rose und Graf haben aus der Not eine Tugend gemacht. Anders als die Werke vieler Debütanten und Filmstudenten, die glauben, dass mit Digital Video all ihre Träume vom Filmemachen wie von selbst wahr werden können, zeugen „ivansxtc“ und „Der Felsen“ von einer äußerst gewissenhaften Auseinandersetzung mit den künstlerischen Besonderheiten, die sich aus den Möglichkeiten einer digitalen Kamera ergeben. So muss man nach dem Sehen von Roses Tolstoi-Verfilmung noch einmal ganz neu darüber nachdenken, was alles mit (natürlichem) Licht möglich ist. Und Dominik Grafs filmischer stream of consciousness ist nicht nur eine Reise ins Innere einer entwurzelten Frau, er ruft uns zugleich in Erinnerung, dass jede Form des Erzählens auch die Reflexion ihrer eigenen Mittel einschließen kann. Diese hochgradig moderne Sensibilität für Form und Technik prägt die Literatur zwar schon seit langem, aber im Kino geht von ihr noch eine wahrhaft revolutionäre Kraft aus.

Bei einem Einbruch in ein Versuchslabor haben Tierschützer Schimpansen befreit, die mit einem neuen Virus infiziert worden sind. Jeder, der von dem Tier gebissen wird, verwandelt sich in einen Zombie, wie wir es in etwa aus den Filmen George Romeros kennen. 28 Tage später hat sich England bereits in ein fast entvölkertes Katastrophengebiet verwandelt. Unzählige Zombies machen Jagd auf ihre einzige Nahrung, die letzten noch lebenden Menschen. London hat sich in eine Geisterstadt verwandelt. Von der Leere der Straßen und Brücken geht eine seltsame Schönheit, aber auch ein namenloser Schrecken aus. Beides ist tief eingeschrieben in die Bilder, die Anthony Dod Mantle mit einer kleinen, überaus mobilen digitalen Videokamera eingefangen hat. Danny Boyle und sein Kameramann arbeiten dabei ganz bewusst mit den sogenannten Schwächen der Technik, mit den Unschärfen und dem Flirren der Bilder. Sie geben „28 Days Later“ einen ganz eigenen apokalyptischen Look, der noch weit über die Untergangsästhetik des Zombie-Kinos der Vergangenheit hinausgeht. Das Ende unserer Zivilisation wie die schleichende Vernichtung alles Menschlichen scheinen sich direkt in den Bildern des Films zu spiegeln. Schon deren Konsistenz zeugt von einem Untergang, der nicht mit einem Knall, sondern mit einem Wimmern kommt. Die Abwesenheit der Menschen und all dessen, was sie ausmacht, kommt in den digitalen, alles in Einsen und Nullen verwandelnden Bildern viel stärker zum Tragen als etwa auf Zelluloid. Und so ist es letztlich nicht einmal die Aktualität der Geschichte von „28 Days Later“, die diese Rückkehr zu einem vergessenen Genre so faszinierend macht; viel entscheidender ist die neue Technik, die eine Renaissance des apokalyptischen Horrorfilms geradezu zwingend erscheinen lässt.

 

 

Sascha Westphal

 

 

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