Wer wir sind

 

Zunächst ist da nichts als ein klarer blauer Himmel. Die strahlende Leere dieser hellen, von Licht durchfluteten Unendlichkeit ist verlockend. Sie gleicht einem Versprechen und einer Einladung ... zum Träumen und zum Handeln. Nahezu alles lässt sich in sie hineinprojizieren. Sie ist das ultimative weiße Blatt, das darauf wartet, mit Schrift gefüllt zu werden, die ursprünglichste aller Leinwände, die mit Bildern zum Leben erweckt werden will. Dieser in seiner undurchdringlichen Offenheit so unermesslich schöne und irgendwie auch schreckliche Himmel ist der Hintergrund aller Science Fiction. Sein Blau ist die Farbe der Wahrheit, die wir noch finden müssen, und der Offenbarungen, die auf uns warten.

 

Ein Countdown ertönt, und schließlich schießt eine Rakete ins Bild. Für einen winzigen Moment lässt man sich täuschen und denkt an die Apollo-Missionen, durch die der Himmel einst, vor über 30 Jahren, auf einmal zum Greifen nah erschien, doch dann zerbirst die Rakete in einer Explosion von Farben und Formen. Es war nur ein Feuerwerkskörper, ein Spielzeug, mit dem eine Schar von Auserwählten ihren Abschied von der Erde feiert. Aber man sollte diesen ersten Augenblick, in dem noch alles möglich ist, keinesfalls unterschätzen. Der Himmel, die Rakete, ihr Zerbersten, das Verwandlung und nicht Zerstörung ist, näher kann man dem innersten Wesen der Raumfahrt wie der Science Fiction kaum kommen. Und so ist denn auch alles, was diesen ersten Bildern im Laufe der „Mission to Mars“ folgen wird, nichts als Variation und Vertiefung.

 

Beinahe vier Seiten muss man warten bis man zum ersten Mal in „Orbiter“, einer von Warren Ellis geschriebenen und von Colleen Doran illustrierten graphic novel, den Himmel in seiner ganzen Pracht sieht. Das helle Blau De Palmas ist hier allerdings einem warmen, fast schon ins Bräunlich-Goldene reichenden Gelbton gewichen. Eine tief über dem Meer stehende Sonne erfüllt den Himmel mit dem Glanz der Erleuchtung. Aus diesem golden strahlenden All heraus wird nur wenige panels später das Space Shuttle „Venture“ auf die Erde zurückkehren. Zehn Jahre zuvor war es von einem Moment auf den anderen spurlos aus seiner Umlaufbahn verschwunden und hatte damit dem Zeitalter der bemannten Raumfahrt ein Ende gesetzt. Seine ebenso unerwartete wie mysteriöse Heimkehr wird nun den Anfang einer neuen Ära in der Entwicklung der Menschheit markieren.

 

Gegenwärtig erscheinen „Mission to Mars“, der schon bei seinem Start vor drei Jahren fast ausschließlich auf Unverständnis oder sogar blanken Hass gestoßen ist, und „Orbiter“, dessen Veröffentlichung noch ganz im Schatten der „Columbia“-Katastrophe steht, erst einmal wie Anachronismen. Sie passen eigentlich gar nicht in das Jahr der „Matrix“ und des „Aufstands der Maschinen“. Im Umfeld dieser durch und durch dystopischen Zukunftsvisionen mögen sie manch einem gar naiv erscheinen. Doch ihr Insistieren auf die Möglichkeit und mehr noch die Notwendigkeit eines menschlichen Fortschritt, der sich nur durch einen Schritt ins All, durch den bewussten Gang ins Ungewisse, realisieren lässt, ist keine blauäugige Phantasterei. Es erwächst vielmehr aus der Überzeugung, dass man für Utopien kämpfen muss, während sich Dystopien ganz leicht in sich selbst erfüllende Prophezeiungen verwandeln können.

 

In einer Popkultur, die nun schon seit Jahrzehnten jugendliche Ängste und pubertären Fatalismus als Einsichten in das wahre Wesen des Menschen propagiert, haben De Palmas Hymne auf einen Menschen, der an allen Widrigkeiten wächst und selbst im Moment des größten Unglücks nicht gewillt ist, einfach aufzugeben, und Warren Ellis’ Beschwörung des Geistes der frühen 60er Jahre einen schweren Stand. Man muss sie wie auch Steven Spielbergs Zukunftsvisionen gegen all die verteidigen, die jedes pessimistische und zynische Porträt der menschlichen Natur sofort als Ausdruck künstlerischer Reife akzeptieren, aber in den Schlusswendungen von „A.I.“ und „Minority Report“ nichts als die Harmoniesucht eines Peter Pan des Kinos sehen wollen.

 

Noch ist es zu früh, um endgültig über die Ideen und Visionen der Wachowski-Brüder zu sprechen. Noch könnte der letzte Teil der Trilogie alles Bisherige auf den Kopf stellen oder zumindest eine andere Perspektive auf die ersten beiden Episoden vermitteln. Doch alleine schon die Werbe- und Merchandise-Maschinerie, die mit aller Kraft versucht, die beiden „Matrix“-Filme zu den Kinoereignissen des Jahres zu machen, und die sekundiert von einem zweiten, nicht weniger gewaltigen Apparat, der ein altes, überkommenes Franchise zu neuem ökonomischen Leben erwecken will, ein gedankliches Monopol im Genre zu errichten sucht, fordert Widerstand heraus. Dem ewigen braunen Dunkel Zions, dieser Stadt ohne Himmel, und dem simulierten Horizont der Welt in der Matrix gilt es, das von zahllosen Wundern und Versprechungen erfüllte All von „Mission to Mars“ und „Orbiter“ entgegenzusetzen. Im Blick auf „Transmetropolitan“, sein Opus Magnum, hat Warren Ellis das Kürzel SF kurzerhand umgedeutet. Aus Science Fiction wird bei ihm „Social Fiction“. Der Blick in die Zukunft gilt nicht mehr vordergründig der Technik und ihren Veränderungen, sondern den Menschen und der zukünftigen Gesellschaft, deren Fundament schon heute gelegt wird. In diesem Sinne wird das Genre zum politischsten innerhalb einer Popkultur, die sich ihrer politischen wie sozialen Bedeutung ansonsten weitestgehend entzieht. Mit der graphic novel „Orbiter“ ist Ellis nun noch einen Schritt weitergegangen. Aus der „Social Fiction“ wird hier eine spiritual fiction, in der die gesellschaftliche Dimension der Geschichte nur eine Facette einer weitaus grundlegenderen Fragestellung ist.

 

„The universe is not chaos. It’s connection. Life reaches out for life. That’s what we are born for, isn’t it? To stand on a new world and look beyond it to the next one. It’s who we are.” Dieses Credo ist mit der Astronautin Maggie McConnell (Kim Delaney) gestorben. Selbst ihr Mann Jim (Gary Sinise), der zusammen mit ihr mehr als jeder andere darum gekämpft hat, als erster Mensch einen Fuß auf den Roten Planeten zu setzen, hat so recht nie an Maggies Überzeugungen glauben können. Sie, die Mystikerin, war eine Außenseiterin in dieser Clique hochprofessioneller Wissenschaftler und Flieger, aus deren Reihen die Besatzung für die erste bemannte Mars-Mission rekrutiert wird. Erst als die „Mission to Mars“ zu einer Katastrophe wird und Jim zusammen mit drei seiner Freunde zu einer Rettungsmission aufbricht, gewinnen ihre Worte und ihr Glauben an Bedeutung. Es ist Maggies einst belächeltes Glaubensbekenntnis, das Jim die Kraft geben wird, die er braucht, als auch auf seiner Mission ein Unglück dem nächsten folgt. Und am Ende sind es ihre Worte, die ihn zu einer weiteren Reise aufbrechen lassen, an die er auf der Erde nicht einmal in seinen kühnsten Träumen gedacht hätte.

 

Es ist der alte frontier-Gedanke, der in Maggies Credo wieder auflebt. Aber es geht dabei nicht mehr um die Inbesitznahme immer neuer Welten. Die Reise selbst und der Wille, nach vorne statt nach hinten zu schauen, sind entscheidend in dieser Definition des Menschen. Jeder Schritt sollte ein Schritt auf dem Weg der weiteren Entwicklung sein. Je weiter wir dabei kommen, desto mehr erfahren wir über uns selbst. So entdecken Jim und die anderen Astronauten auf dem Mars den Ursprung des Lebens auf der Erde und können von dort aus aufbrechen, um ihr bisheriges Sein hinter sich zu lassen. Der Weg der Erkenntnis, den De Palma der Menschheit mit der in „Mission to Mars“ angelegten Utopie vorzeichnet, ist von fortwährenden Rückschlägen und schweren Verlusten gekennzeichnet, aber sie sind ein Preis, der es wert ist, gezahlt zu werden.

 

To stand on a new world and look beyond it to the next one. Eine schier überwältigende Kraft geht von „Mission to Mars” aus. Fast jede Einstellung des Films hält eine Offenbarung bereit. Die Bilder, die De Palma mit seiner schwerelos erscheinenden Kamera vom Leben und vom Arbeiten in einem Raumschiff eingefangen hat, sind einzigartig in der Filmgeschichte. Sie erfüllen einen wie auch die majestätische Schönheit seines Weltalls mit Ehrfurcht und mit Glauben. Kubricks „2001“ mag ein Ausgangspunkt für De Palma gewesen sein, aber anders als etwa Steven Soderbergh, der dessen Bilderfindungen und -kompositionen in „Solaris“ nur zitiert, transzendiert De Palma die Ästhetik seines Vorbilds. Kubricks legendäre Kälte weicht in „Mission to Mars“ einer geradezu berauschenden Wärme. Natürlich ist das All auch hier ein unbarmherziges, zerstörerisches Reich, in dem der Mensch nur unter größten Anstrengungen überleben kann. Aber selbst in dem Moment, in dem Tim Robbins sich für die anderen opfert und in der eisigen Kälte des Weltraums stirbt, spürt man noch etwas von der erhabenen Schönheit des Kosmos’. In seinem Vorwort zu „Orbiter“ schreibt Warren Ellis, dass wir auch nach einer Katastrophe wie dem Absturz der „Columbia“ zurück ins All müssten, weil es auf uns warte. Wenn man „Mission to Mars“ sieht, bekommt man eine Ahnung von dem, was dort auf uns wartet.

 

All die technischen Entwicklungen und digitalen Neuerungen der letzten Jahre haben dem Kino eine neue Welt eröffnet. Nur während De Palma mit „Mission to Mars“ nach vorne blickt – jede Einstellung birgt ein Versprechen auf künftige Bilder in sich, man ahnt, dass da noch etwas jenseits der Leinwand liegt, etwas, dessen erste Spuren man schon hier wahrnimmt –, sind die Wachowskis der Faszination der gar nicht mal so schönen neuen digitalen Bilderwelt erlegen. Nichts in „Matrix Reloaded“ verweist auf die Zukunft des Kinos und seiner Bilder. Denn Action-Szenen, die aussehen, als stammten sie direkt aus einen Videospiel, müssen sich über kurz oder lang als Irrweg erweisen. Warum sollte man noch den Saal eines Multiplexes betreten, in dem man zur Passivität der Filmerfahrung verdammt ist, während man doch zuhause an der Spielkonsole etwas ähnliches sehen und aktiv erleben kann?

 

„Human spaceflight remains experimental. It is very dangerous. It demands great ingenuity. But we are old enough, now, to do these things. Growing up is hard. But we cannot remain children, standing on the shore or in front of the TV set.” Ein wahrhaft missionarischer Eifer treibt Warren Ellis und Colleen Doran an. Er ist in jedem von Ellis’ Worten und in jeder von Dorans Illustrationen zu spüren. „Orbiter“ ist mehr als nur eine graphic novel, so wie „Mission to Mars“ mehr als nur ein Film ist. Seine Schöpfer wollen uns die Augen über uns selbst öffnen und uns den notwendigen Anstoß geben, auf dass wir unsere Situation wie unser Potential erkennen. Die bemannte Raumfahrt, die heute wie in der Fiktion von „Orbiter“ vor dem Aus steht, ist dabei vor allem eine Illustration. Die Angst, die nach Unglücken und Rückschlägen wie dem „Columbia“-Absturz um sich greift, kann stellvertretend für all die Ängste stehen, von denen wir uns als einzelne, aber auch als Gesellschaft im ganzen beherrschen lassen. Angst ist es, die in „Orbiter“ alle Handlungen der Mächtigen diktiert. Und diese Angst der Menschheit vor dem Blick in neue Welten ist es auch die Ellis’ Helden, der Astronautin Michelle Robeson, dem Raketenphysiker Terry Marx und der Psychoanalytikerin Anna Bracken, ihren Lebensinhalt geraubt hat. Sie alle mussten ihre Träume begraben, als nach dem Verschwinden der „Venture“ beschlossen wurde, dass nur noch Computer und Roboter ins All fliegen sollen. In dem Moment, in dem die „Venture“ mit zehn Jahren Verspätung zum Kennedy Space Center zurückkommt, erhalten die drei eine neue Chance. Sie sollen herausfinden, was mit dem Space Shuttle passiert ist, wo es war und was sein Captain, der als einziger aus der siebenköpfigen Besatzung bei der Landung noch an Bord war, erlebt hat.

 

Michelle, Terry und Anna leiden darunter, dass sich unsere Gesellschaft noch immer in einer Phase der Adoleszenz befindet, dass sie sich nun schon seit Generationen weigert, den nächsten Schritt in einer logischen Entwicklung zu vollziehen. Als einzelne sind sie weiter als das Ganze, und so bietet ihnen die Rückkehr der „Venture“, die eben auch eine Einladung an die Menschheit ist, endlich die eigenen Ängste zu überwinden und damit zu entdecken, was seit Urzeiten auf sie wartet, die Gelegenheit, als erste den großen Schritt zu machen, der für den Menschen an sich nur ein kleiner Schritt auf seinem Wege sein kann.

 

 

Sascha Westphal

 

 

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