Mid-Job-Life-Crisis

 

Ich weiß, man sollte beim Schreiben eigentlich immer den Leser vor Augen haben. Doch so sinnvoll und notwendig dieser Ansatz auch im Blick auf die tägliche Arbeit sein mag, im Grunde ist er eine Fessel und wird es wohl allezeit bleiben. Und wie alle Fesseln muss auch diese irgendwann gesprengt werden – selbst dann, wenn man weiß, dass man sie im nächsten Augenblick selbst wieder anlegen wird. Es gibt Zeiten, in denen man als Autor den Leser einfach vergessen muss, um überhaupt weiter schreiben zu können. Und im Moment stecke ich offenbar in einer solchen Phase.

 

Diese Randnotizen sollen also nicht nur beiläufige Bemerkungen zum Kino an sich und zu einzelnen Filmen sein, sie sind vielmehr als Notizen vom Rand gedacht, als ganz und gar persönliche Aufzeichnungen, die mir helfen sollen, wieder zurückzufinden. Natürlich möchte ich, dass sie gelesen werden, und ich hoffe auch, dass sie vielleicht doch mehr als nur innere Monologe eines in eine Krise geratenen Kritikers sein werden. Und dennoch werde ich diese Kolumne zumindest vorerst nur für mich schreiben. Alles andere wird sich mit der Zeit finden, oder eben auch nicht. Wer mir also trotz allem auf dieser – hoffentlich wöchentlichen – Reise wohin auch immer folgen möchte, ist hiermit herzlich eingeladen.

 

Fast zehn Jahre sind es nun schon, seit ich das erste Mal bei einer Pressevorführung war. Damals war ich mir sicher, dass ich nie so werden würde wie ein großer Teil der anderen Kritiker, die da jeden Morgen zusammenkommen, um all ihre Vorurteile über Filme und ihre Macher von neuem bestätigt zu finden. Ich verstand nicht, wie man – das Licht im Saal war noch nicht wieder richtig an – sofort einen coolen Spruch auf den Lippen haben konnte, der das gerade Gesehene auf ein doch meist äußerst schales Bonmot reduziert. Und wenn ich dann – auch nur für einem kurzen Moment – dem sich umgehend bildenden Kreis der doch so erhabenen Kritiker lauschte, die offenbar glauben, dass ihr Job sie dazu verpflichtet, zu fast allen Filmen „NEIN“ zu sagen, stellte ich mir immer nur eine Frage: Warum haben sich diese Menschen, die doch ganz offensichtlich keinen Spaß am Kino haben, gerade diesen Beruf ausgesucht? Eine Antwort darauf habe ich bis heute noch nicht gefunden, und im Endeffekt interessiert sie mich auch gar nicht mehr. Aber so sehr ich mich immer noch von diesem Typ von Kritiker distanziere, eines muss ich trotz allem gestehen: Ich war damals in meinem unerschütterlichen Glauben an das Kino als einem Ort der fortwährenden Wunder ziemlich naiv und wohl auch ein wenig arrogant.

 

Wenn man fast Tag für Tag morgens zu Pressevorführungen fährt und am Ende eines Jahres etwa 300 neue Filme gesehen hat, lässt sich irgendwann eine gewisse Desillusionierung kaum mehr vermeiden. Man kann schließlich nicht nach seinen eigenen Interessen und Vorlieben entscheiden, was man sich ansieht, sondern ist den Entscheidungen der Verleiher ausgeliefert – und dass die oft einfach nicht nachzuvollziehen sind, weiß jeder, der mehr als nur ein paar Mal im Jahr ins Kino und in Videotheken geht. Zudem verändert sich ein Filmerlebnis natürlich, wenn man weiß, dass man später darüber schreiben wird. Der Blick ist zwangsläufig ein anderer. Mit jeder Pressevorführung verliert das Kino ein wenig von seiner ureigenen Magie. Was bleibt, ist also nur der Kampf gegen die eigene Ernüchterung. Und darin liegt die eigentliche Schwierigkeit dieses Jobs. Ich glaube, dass ein großer Teil der Kritiker, die man Morgen für Morgen bei Pressevorführungen trifft, diesen Kampf schon längst aufgegeben haben (... wenn sie ihn denn überhaupt je geführt haben). Nur so lässt sich die kühle, wenn nicht genervte Stimmung vor und nach den screenings erklären. Über Filme zu schreiben und das Kino trotzdem noch mit der gleichen Intensität und Offenheit zu lieben, die einen erst auf die Idee gebracht haben, Kritiker zu werden, ist zweifelsohne Arbeit. Wenn man nicht einmal versucht, sich die Neugierde auf jeden Film zu bewahren, wenn man einfach nicht mehr bereit ist, sich von den flüchtigen Bildern dort oben auf der Leinwand verzaubern zu lassen, dann kann man das Gesehene vielleicht bewerten, aber warum sollte man noch darüber schreiben?

 

Im Grunde liebe ich das Kino noch immer (sonst würde es auch gar keinen Sinn mehr machen, noch weiter fast alles, was hier in Deutschland anläuft, zu gucken). Wie gerne würde ich zudem noch sagen: „I love it here“. Aber im Moment fällt mir das ungeheuer schwer. Und so bleibt mir nichts als Spider Jerusalems trotziges, von Hassliebe erfülltes „I hate it here“. Die Welt des Kinos erscheint mir gegenwärtig tatsächlich wie die Stadt in Warren Ellis’ epischer graphic novel „Transmetropolitan“. Sie ist ein durch und durch korrumpiertes Reich, in dem kaum noch jemand, weder Macher noch Zuschauer, die Kraft und den Mut aufbringt, den Gesetzen des Marktes zu widerstehen. Und das gilt eben nicht nur für die großen Studioprodukte, die diese so unglaublich gefräßigen Säle der Multiplexe versorgen, auch das Arthouse und das World Cinema funktionieren heute längst nach den gleichen Gesetzen, die alles in Hollywood regeln. Man folgt einfach bestimmten Mustern und Trends, und dann finden sich auch automatisch die Kritiker und die Festivalmacher, die – um nur ein Beispiel zu nennen – aus einem so ungeheuer prätentiösen und dabei doch so belanglosen Werk wie Carlos Reygadas' „Japón“ (dt. Start: 5. Juni) ein Ereignis machen. Das lateinamerikanische Kino ist eben zurzeit angesagt, und ein gewisser ‚Tarkowskij-Touch’ garantiert Filmemachern nun schon seit Jahren den Beifall eines Publikums, das längst verlernt hat, zwischen existentieller Tiefe und ästhetischer Leere zu unterscheiden.

 

So reizvoll es auch ist, Analogien zwischen ‚Der Stadt’ und dem Kino herzustellen, und so gerne ich in die Rolle eines Spider Jerusalems der Filmkritik schlüpfen würde (where are my filthy assistants?), muss ich doch zugeben, dass der Vergleich letztlich scheitern muss. Spiders ganzes Streben in „Transmetropolitan“ gilt der Wahrheit und ihrer Aufdeckung. Er hinterfragt all das, was von der Masse der passiven Realitätskonsumenten als gegeben hingenommen wird, und sein Insistieren auf einer Wahrheit jenseits der Propaganda muss diese am Ende zutage fördern. Nur gibt es in der Welt des Kinos keine Wahrheit. Für mich mag ein Regisseur wie Carlos Reygadas für all das stehen, was ich an vielen sogenannten ‚Kunstfilmen’ und ihren Machern verabscheue, ihr Kalkül und ihre Arroganz, ihre Anmaßung und ihre Verlogenheit, aber das wird nie mehr als meine Sicht auf den Film sein. Und selbst wenn jeder die letzte gemeinsame Szene zwischen dem von Vin Diesel gespielten Cop und seiner Ehefrau in F. Gary Grays „A Man Apart“ („Extreme Rage“; dt. Start: 28. August) als das Klischee wahrnimmt, das sie zweifellos ist, bedeutet dies noch nichts. Für mich ist diese in der Ästhetik einer „Fa“-Werbung inszenierte Montagesequenz ehelicher Harmonie beinahe so etwas wie der Inbegriff für all das, woran das große Hollywood-Kino im Augenblick krankt. Statt Emotionen zu entwickeln, behauptet man sie nur. Schließlich haben uns ähnliche Bilder schon vor Jahren einmal wirklich berührt, warum sollten sie also jetzt nicht wieder diesen Effekt erzielen? Aber ich kann hier weder das Idyll sehen noch das Glück empfinden, das in ihm liegt, stattdessen denke ich nur daran, dass beides in der nächsten Szene unweigerlich zerstört werden wird. Aber letztlich weiß ich natürlich, dass das genauso mein Problem ist wie das des Films. Die einzige Wahrheit, die nach einem Film wie „A Man Apart“ noch bleibt, ist, dass Emotionen und Wahrhaftigkeit wahrscheinlich noch viel stärker im Auge des Betrachters liegen als Schönheit.

 

Nach Filmen wie „Japón“ und „A Man Apart“, die hier letztlich nur stellvertretend stehen für all die anderen Titel, die in den letzten Wochen und Monaten meinen Glauben an das Kino erschüttert haben, bin ich langsam bereit, einem guten Freund zuzustimmen, der schon seit langem die Kinogeschichte über dessen Gegenwart stellt. Für ihn ist der Film eine Kunstform der Vergangenheit, die sich nun nach fast hundertjähriger Herrschaft in einer Phase des Siechtums befindet. The Fall of the Cinematic Empire. Dies würde einiges erklären. „Bollywood, Hollywood“ und „Gott ist tot“, Lawrence Kasdans Absturz mit „Dreamcatcher” und Stephen Hereks moralische Bankrotterklärung „Life or Something Like It” wären damit genauso wie Spike Jonzes Kinoverweigerung „Adaptation” und Stephen Daldrys „The Hours”, diese Seifenoper für alle, die einmal in einem Literaturseminar gesessen haben, als Symptome ein und derselben Krankheit zum Tode zu erklären. In ihnen würden sich die letzten Zuckungen eines künstlerischen Mediums manifestieren, das nur noch nicht weiß, dass seine Zeit gekommen ist. Diese Sicht auf die heutige Filmlandschaft hat etwas Bestechendes. Ich muss nur an die Berlinale zurückdenken. Schließlich sind die interessantesten Filme des Festivals ausnahmslos in der Retrospektive gelaufen. Doch noch will ich die Hoffnung auf die Zukunft nicht ganz aufgeben. Gelegentlich besinnen sich auch heute noch einige Filmemacher wie Fred Schepisi bei „It Runs in the Family“ auf die alten Tugenden des Kinos. Ihre Filme sind dann auf eine angenehme Weise altmodisch, aber eben nicht epigonal wie „A Man Apart“ oder auch Todd Haynes' missglückte Hommage/Dekonstruktion klassischer Melodramen „Far From Heaven“.

 

„It Runs in the Family“ ist trotz seiner spektakulären Besetzung – Schepisi versammelt hier zum ersten Mal fast den ganzen Douglas-Clan vor der Kamera – einer dieser Filme, die fast zwangsläufig untergehen. Und wenn sie dann noch in den Zeiten der gehypten Blockbuster und zu Tode beworbenen event movies, sprich im immer früher beginnenden Kinosommer, gestartet werden, schwindet auch noch ihre letzte Chance. Aber wahrscheinlich ist die Zeit dieser Filme überhaupt vorbei. Letztlich greift „It Runs in the Family“ zwar ähnliche Themen auf wie die letzten Filme des Kritikerlieblings PT Anderson, doch anders als dieser selbsternannte Erbe des New Hollywood nimmt Schepisi die Frage nach den Mechanismen, die in einer Familie wirken, viel zu ernst. Ihm sind seine Figuren und deren Probleme einfach wichtiger als der eigene Ruhm. In dem aufgeblasenen Epos „Magnolia“ und dem wahrhaft verabscheuungswürdigen „Punch Drunk Love“ verweist jede Einstellung, jede Kamerafahrt, jeder Schnitt auf den Regisseur. Die Filme kreisen einzig und allein um dessen ‚Talent’ und verlieren damit jede Bedeutung. Bei „It Runs in the Family“ vergisst man dagegen fast, dass er überhaupt inszeniert wurde. So kann man sich ganz auf die Zerrissenheit seiner Figuren konzentrieren, und in ihren Stärken wie in ihren Schwächen sich selbst wiedererkennen. Mit seiner bedachten Darstellung der komplexen und höchst ambivalenten Verwicklungen, die Teil einer jeden Vater-Sohn-Beziehung sind, rückt Schepisi Andersons pubertäre Amokläufe gegen Familien im Allgemeinen und Väter im Besonderen ins rechte Licht.

 

Zudem gelingt es Fred Schepisi noch, einen in kleinen, fast schon beiläufigen Szenen daran zu erinnern, warum man das Kino eigentlich so sehr liebt. Einmal überreicht Rory Culkin seinen von Michael Douglas und Bernadette Peters gespielten Eltern eine mit dem Computer erstellte Tabelle, in der er akribisch genau seine wöchentlichen Ausgaben detailliert. Die Beiden können es gar nicht fassen, dass ihr Sohn auf diesem Weg um eine Erhöhung seines Taschengeldes bittet, dabei müsste er doch nur etwas sagen, und sie würden ihm so ziemlich jeden Wunsch erfüllen. Für Momente wie diesen, für den es auch einfach keine adäquate Sprache gibt, wurde das Kino erfunden. Natürlich könnte man sich eine solche Szene auch in einer Fernsehserie vorstellen, doch man muss Michael Douglas und Bernadette Peters’ Reaktion auf der Leinwand sehen, um sich der ganzen emotionalen Tragweite dieser Situation bewusst zu werden. Auf dem Fernsehbildschirm ginge eine solche Szene im Fluss der Bilder und Ereignisse ganz leicht verloren.

 

Sascha Westphal

 

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