In the Cut von Sascha Westphal

 

Wann wird eine Geschichte, ein Roman oder auch ein Film, interessant. Was muss im Verlauf seiner Handlung alles geschehen, damit am Ende nicht ein Eindruck von Langeweile vorherrscht. „Es müssen mindestens drei Frauen sterben!“, davon ist wenigstens einer der Studenten überzeugt, die an Frannie Averys „Creative Writing“-Seminar teilnehmen. So gesehen ist ein Roman wie Virginia Woolfs „To the Lighthouse“, durch den Frannie ihre Schüler mit den Techniken der literarischen Moderne vertraut machen wollte, natürlich völlig uninteressant, erzählt er doch nur vom Tod einer einzigen älteren Dame.

 

Die allgegenwärtigen Schrecken und mehr noch der sie begleitende Sensationalismus des 20. Jahrhunderts haben offensichtlich weitaus stärkere Spuren bei ihren Studenten hinterlassen, als die beinahe 40-jährige Professorin gedacht hätte. Der Schock, den Woolfs Prosa einst nur aufgrund ihrer formalen Radikalität auslösen konnte, ist vergessen und auf keinen Fall mehr wiederholbar. Um einen auch nur entfernt vergleichbaren Effekt zu provozieren, muss ein Künstler heute ganz andere Taktiken bemühen.

 

In the Cut, Jane Campions Adaption von Susanna Moores gleichnamigen Roman, der bei seinem Erscheinen 1995 zumindest im akademischen Milieu Amerikas einen kleinen Skandal ausgelöst hat, würde Frannies Studenten wahrscheinlich viel besser als „To the Lighthouse“ gefallen. Schließlich werden in ihm mindestens drei Frauen von einem auf perverse Weise sogar sehr liebevollen Serienkiller umgebracht, und eine vierte, die von Meg Ryan gespielte Dozentin Frannie Avery, kommt ihm gefährlich nahe. Der Tod, zumal durch die Hände eines Mörders, der die Körper seiner Opfer zuerst liebkost und dann zerstückelt, übt in Jane Campions erotischem Fiebertraum eine besondere Faszination aus. So wie sich die Twens, die Frannie ans Schreiben und damit auch ans Leben heranführen will, von besonders detaillierten Beschreibungen exzessiver Gewalt gegen Frauen und Kinder angezogen fühlen, so gerät die Autorin und Professorin, die ihre Begierden immer nur unterdrückt hat, in den Bann eines Polizisten, der eben nicht nur in dem Fall des Serienmörders ermittelt. Detective James Malloy (Mark Ruffalo) ist selbst einer der Hauptverdächtigen, trägt er doch das gleiche Tattoo auf dem Unterarm, das Frannie bei dem Mann gesehen hatte, der kurz vor dem ersten Mord mit dem späteren Opfer zusammen war.

 

Es war sein Ende, das Susanna Moores Roman seinerzeit so viel Aufsehen beschert hat. Moores Provokation ist aufgegangen. Ihr „dünner Happy-Hour-Shake aus Blut und Sperma”, um mit Matthias Altenburg den wohl schärfsten Kritiker dieses nihilistischen Thrillers zu zitieren, hat eine Diskussion ausgelöst, die einmal mehr bewiesen hat, dass eine Geschichte tatsächlich mindestens drei tote Frauen braucht, um zu einem Medienereignis zu werden. Jane Campion hat sich diesem Ende, oder zumindest seiner Eindeutigkeit, konsequent verweigert. Die uneingestandene Todessehnsucht, die Frannie und ihre Halbschwester Pauline (Jennifer Jason Leigh) antreibt, und ihr so augenscheinlicher Hang zum Masochismus gehen zwar genauso wie Malloys sexualisierte Sprache auf Moores postfeministische Phantasien von Lust und Unterwerfung zurück, doch am Ende ist In the Cut den Romanen Virginia Woolfs näher als seiner Vorlage.

 

Mit einigen Momentaufnahmen von Häusern und Straßen, von Müll und Graffitis, etabliert Jane Campion zunächst einmal eine Perspektive, die auf geradezu klassische Weise Objektivität suggeriert. Diese Bilder einer Stadt voller Geheimnisse und Gefahren verweisen auf den Blick eines souveränen Erzählers, der sich von Außen den Figuren und Ereignissen der folgenden Geschichte nähert. Aber noch während der Credit-Sequenz beginnt man, an dieser Außenperspektive zu zweifeln. Die Bilder von Pauline, die in einem kleinen New Yorker Park steht, eine Tasse Kaffee trinkt und plötzlich von herunterregnenden Blütenblättern umgeben ist, wirken zu schön, zu poetisch und zu sinnlich, um wahr zu sein. Sie scheinen vielmehr aus dem Unterbewusstsein der sich im Schlaf herumwälzenden Frannie aufzusteigen, die daraufhin kurz aufwacht, um sofort wieder einzuschlafen und weiter zu dösen. Nur ist nun die Farbe aus ihren Träumen gewichen. Die Bilder von einem Mann, der gleich einem Raubtier seine Kreise um eine schlittschuhfahrende Frau zieht, erinnern in ihrem Sepia-Ton an verblichene Photographien und alte Stummfilme. Vielleicht wacht Frannie irgendwann doch noch auf und lebt das aus, was sie sich zuvor nur im Schlaf gestattet hatte, vielleicht träumt sie aber auch alles weitere.

 

Wie im Werk Virginia Woolfs haben sich die Grenzen zwischen subjektiver Wahrnehmung und objektiver Realität in In the Cut aufgelöst. Jane Campion reiht Einstellungen und Szenen aneinander, die eher einer assoziativen, vom Unterbewusstsein gesteuerten Traumlogik folgen als den Gesetzen der Wirklichkeit. Man kann sich nie sicher sein, ob die weichen, an den Rändern meist unscharfen und sich fast immer in Bewegung befindenden Bilder ein tatsächliches Geschehen abbilden, oder ob sie Teil eines endlosen Bewusstseinsstroms sind, der Frannies Innerstes nach Außen kehrt.

 

Campion und ihr Kameramann Dion Beebe haben für den Dreh spezielle Linsen gewählt, die nur einen relativ kleinen Ausschnitt des Bildes scharf erscheinen lassen, während der Rest verschwimmt. Mit dieser Unschärfe an den Rändern geht eine irritierende Instabilität einher. Der Schock der literarischen Moderne wiederholt sich doch noch einmal, jetzt allerdings im Kino. Die einst so klare und unzweifelhafte Perspektive des Genrekinos ist verlorengegangen. Nun kann man den unaufhaltsam dahinströmenden Bildern genauso wenig vertrauen wie Frannies Wahrnehmung oder Jane Campions Erzählung.

 

Sascha Westphal

 

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