Dear Wendy von Sascha Westphal

Es gab einmal eine Zeit, in der man selbst als distanzierter und durchaus auch kritischer Beobachter des Schaffens von Lars von Trier dessen neuen Arbeiten mit Spannung entgegen blickte. Zwar zeichnete sich selbst damals schon, vor allem bei seinen Drehbüchern zur Europa-Trilogie, ein gewisser Hang zum Thesenhaften und zu plakativen Zuspitzungen ab, doch dem stand sein innovativer Stil und sein experimenteller Umgang mit den Möglichkeiten des Kinos entgegen, die letztlich sogar Epidemic, seine prätentiös-avantgardistische Reflexion über die eigene künstlerische Radikalität, in ein faszinierendes Stück Kino verwandelt haben.

Doch schließlich hat der Egotist von Trier über den Künstler triumphiert, und damit begann ein Niedergang, dessen erstes Zeichen seine Unterschrift unter dem Dogma 95-Manifest war. Plötzlich präsentierte sich der fast schon anarchistische Individualist als orthodoxer Heilsbringer eines europäischen Kinos, das sich durch Abschottung vor der ästhetischen Übernahme durch Hollywoods High Style schützen sollte. Er hat sich zwar schnell von der von ihm und Thomas Vinterberg initiierten Bewegung abgewandt. Mit Dancer in the Dark, der Vorstudie zur Amerika-Trilogie, hat dann einen Film gedreht, der im Prinzip das Dogma-Manifest mit seinem ausufernden Regel-Katalog als großen Streich entlarvte. Doch selbst wenn er seither nicht mehr die Reinheit des Kinos predigt, die Kanzel hat er trotz allem nicht verlassen.

Nur warnt uns von Trier, der sich in seiner neuesten Inkarnation zudem noch als der Karl May des abendländischen Kunstkinos entpuppt hat, nun nicht mehr ausschließlich vor dem Teufel Hollywood, sondern gleich vor dem Antichristen Amerika. Und in Thomas Vinterberg, der schon zu Dogma-Zeiten direkt zu seiner Rechten saß, hat er wieder einmal einen bereitwilligen Jünger gefunden, der selbst die irrelevantesten und die kryptischsten Botschaften seines Meisters eifrig in eine Welt hinausträgt, die sich immer noch lieber den frevelhaften Verlockungen des amerikanischen Blockbuster-Kinos hingibt, als sich durch die strengen Exerzitien von Triers läutern zu lassen.

In diesem Sinne ist Dear Wendy, Vinterbergs dritter Film, zu dem von Trier das Drehbuch geschrieben hat, trotz seiner so offensichtlichen Ecken und Kanten, seiner unübersehbaren dramaturgischen und vor allem auch logischen Schwächen, weit mehr als nur ein Nebenprodukt der Arbeit an der Amerika-Trilogie. Er ist Teil einer Strategie, so wie auch schon die ersten vier Dogma-Filme mit ihrer Rollenverteilung Ausdruck einer genau kalkulierten Taktik waren. Dear Wendy präsentiert sich als rauere, dreckigere und mit ihren überdeutlichen Genre-Anklängen zugleich auch ‚gefälligere’, also Mainstream kompatiblere, Variation auf die in Dogville und Manderlay aufgegriffenen Themen. Vvon Trier konnte dieses Drehbuch also gar nicht selbst umsetzen, er musste es weitergeben an einen treuen Weggefährten, der seine Ideen mit der gleichen Inbrunst verkündet wie er selbst und dabei doch ein anderes Publikum erreicht.

Esterslope, das triste Bergarbeiternest, in dem von Trier und Vinterberg ihre Geschichte von so klassischen amerikanischen Untugenden wie Waffenfetischismus, Rassismus und Arroganz angesiedelt haben, unterscheidet sich kaum von den symbolisch aufgeladenen Schauplätzen der Amerika-Trilogie. Die wenigen geraden Straßen, die sich starr im rechten Winkel kreuzen, betonen das Konstruierte, das Erzwungene, der Gemeinschaft, die in ihnen lebt, und verweisen zudem noch auf all die schäbigen Nester, wie man sie aus unzähligen Western kennt.

Dear Wendy spielt zwar in unserer Gegenwart, doch im Endeffekt hat man den Eindruck, die Zeit sei in Amerika irgendwann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stehen geblieben. Zumindest gelten in Esterslope noch die gleichen Gesetze wie in Hollywoods Wildem Westen. In seinem tiefsten Innern weiß das der schüchterne Jugendliche Dick (Jamie Bell) auch. Schließlich verliebt er sich nicht ohne Grund in einen kleinen, sehr femininen Revolver, den er zunächst noch für ein Spielzeug hielt. Es ist diese Waffe, die ihm das nötige Selbstbewusstsein gibt, das ihm zuvor fehlte. Außerdem verleiht sie ihm, dem bis dahin introvertierten Einzelgänger, die Kraft, mit drei anderen Jungen und einem Mädchen, alle sind sie Außenseiter wie er, den Klub der Dandies zu gründen. Die fünf bezeichnen sich zwar als Pazifisten und geloben, ihre Waffen nie gegen Menschen zu wenden, doch das ist alles nur Illusion und Selbstbetrug.

All die seltsamen Verfremdungseffekte und sich zum Teil auch widersprechenden Allegorien, die so kennzeichnend sind für Dogville und Manderlay, gehen vielleicht noch in dem abgeschlossenen Universum einer riesigen Halle auf, in der ein paar Kreidestriche auf dem Boden eine ganze Welt evozieren können. Doch für Dear Wendy hat von Trier seinen Apostel aus dem abstrakten Raum seiner Ideen-Welt in unsere postindustrielle Realität hinausgeschickt. Im harschen Licht eines stillgelegten Zechengeländes in Nordrhein-Westfalen, das von Triers und Vinterbergs amerikanisches Niemandsland doubeln soll, zeichnen sich sehr schnell die Risse in diesem Gleichnis von einer Gemeinschaft selbstverliebter Waffenfetischisten und heuchlerischer Idealisten ab, die in dem Moment ihr wahres Gesicht offenbaren, als sie einen gerade aus dem Gefängnis kommenden jungen Schwarzen in ihre Reihen aufnehmen müssen.

Am Ende geht keine einzige Übertragung mehr auf. Nicht einmal die gründlichste Exegese könnte noch Licht in dieses mystische Dunkel fundamentalistischer Kunst bringen. Aber auch das hält Vinterberg, der sich nach It’s all about Love, einem wunderlichen, aber auch ziemlich faszinierenden Ausbruchsversuch aus dem Reich von Triers, nun endgültig voller Inbrunst in seine Rolle als Erfüllungsgehilfe zu stürzen scheint, nicht davon ab, noch immer weiter zu predigen. Schließlich greift er, wie es sich für einen Evangelisten des Kinos gehört, sogar zu den Mitteln des Teufels. Das Gleichnis gipfelt in einem überaus brutalen Showdown voller stilistischer Spielereien, auf das wir, die dem Götzen Amerika und seiner Bildermaschinerie verfallen sind, unseren Irrtum erkennen und reumütig auf den richtigen Weg zurückkehren. Nur geht in dem finalen Kugelhagel nichts außer der Botschaft des Propheten von Trier unter. Der Moloch Amerika bleibt unberührt und hat nichts von seinem Reiz verloren.

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Fotos:

1. Jamie Bell (l.) und Bill Pullman  © Legend Filmverleih
2. Die Dandies  © Legend Filmverleih