AGITPROPFILME

 

von Thomas Klarmeyer

 

Eigentlich wollte ich gar nichts über BOWLING FOR COLUMBINE schreiben (zumal Richard Jameson in der neuen „Steadycam“ meine Meinung zum Film schon auf den Punkt gebracht hat); aber als ich – nach der Lektüre von mindestens einem Dutzend hymnischer Rezensionen und sechs oder sieben Interviews, die dem Schöpfer des Films mit einer Ehrfurcht entgegentreten, als sei er ein Kulturkritiker vom Formate eines Mike Davis – am Wochenende arglos das „Zeit“-Feuilleton aufschlug und mir der Anblick eines bald halbseitigen Fotos von Mr. Michael Moore das Frühstück verdarb, platzte mir der Kragen. Warum, so lautet die große Frage, fällt ein Großteil der deutschen Filmkritik auf diesen miserablen und maßlos verlogenen Film herein: einen Dokumentarfilm, der nicht eine einzige Sekunde lang so etwas wie Respekt oder zumindest ernstgemeintes Interesse an seinen Objekten erkennen läßt (und insgesamt eigentlich eher in das Genre des Agitpropfilms fällt), der das intellektuelle Reflexionsniveau eines 12-jährigen besitzt, der mit – meinetwegen – einer gewissen schwungvoll-unterhaltsamen Verve vehement die offensten aller Türen einrennt und dabei auch noch in der letzten halben Stunde (die Aktion gegen den Verkauf von Kugeln im Supermarkt und die Brechreiz auslösende Charlton-Heston-Szene) seine eigene Argumentation verrät, wonach nicht der Waffenbesitz an sich die Gewalt in Amerika verursacht, sondern vielmehr die von den Medien geschürte US-Angstpsychose?

Ich glaube, die Antwort liegt auf der Hand. Der typische deutsche Filmkritiker sieht nämlich genau so aus wie Mr. Michael Moore. Man besuche eine durchschnittliche Pressevorführung, und schon wird man mehr von diesen Leuten sehen als einem lieb ist: ungepflegte, fusselbärtige, schwabbelig-übergewichtige Gestalten mit Baseballkappen, schlecht sitzenden Jeans aus dem Supermarkt und Turnschuhen. Die Physiognomien von Verlierern des Lebens. (Es gibt auch einige ähnlich traurige Varianten dieses Typs.) Und Mr. Michael Moore, der ja in seinem Film keine Gelegenheit ausläßt, seine Visage und seinen unförmigen Körper ins Rampenlicht zu quetschen, gibt diesen jammervollen Figuren das Gefühl, wenigstens dieses eine Mal noch cooler zu sein als die lässigen muskelgestählten Typen mit den großen Kanonen, wenigstens einmal gegenüber den schöneren und stärkeren Menschen das vernichtende letzte Wort zu haben. Der rauschende Erfolg von BOWLING FOR COLUMBINE in den deutschen – und leider nicht nur deutschen – Feuilleton-Kreisen scheint mir in erster Linie als soziopsychologisches Phänomen lesbar zu sein (wobei sich der Film bezüglich der von ihm bedienten Bedürfnisse des Publikums auch wiederum auf höchst eigentümliche Weise dem Fantasy-Genre anzunähern scheint).

Wahrscheinlich wäre das schreckliche „Zeit“-Foto noch immer nicht Grund genug für mich gewesen, einen Text über Moore und sein Machwerk zu schreiben; aber dann habe ich am letzten Freitag eher zufällig einen anderen und viel besseren Agitpropfilm gesehen, der mich über die grundsätzlichen Möglichkeiten dieses Genres nachdenken ließ. Prinzipiell bin ich ja, wie hoffentlich auch die Mehrzahl unserer Leser, der Ansicht, daß Subtilität, Nuancenreichtum, Aufgeschlossenheit und (benennen wir’s ruhig einmal mit diesem etwas altertümlichen Wort) Demut gegenüber dem Dargestellten zu den erstrebenswertesten Qualitäten eines Filmemachers zählen – Qualitäten also, die der Propagandafilm per definitionem eigentlich nicht aufweist. Es bleibt also die Frage: Gibt es trotzdem gute Agitpropfilme, und wenn ja, wodurch zeichnen sie sich aus?

Die Rede ist hier von Jean-Marie Straubs und Danièle Huillets 1972 gedrehtem Kurzfilm EINLEITUNG ZU ARNOLD SCHÖNBERGS BEGLEITMUSIK ZU EINER LICHTSPIELSZENE. Es ist im Prinzip eine Abrechnung mit Schönberg und dessen Ansichten zum Kommunismus; der Hauptteil besteht aus zwei Texten, die in schier quälend langen, starren Einstellungen in einem Aufnahmestudio vorgelesen werden: zunächst ein 1923 geschriebener Brief Schönbergs an Wassili Kandinsky, in dem er einen Ruf ans Bauhaus ablehnt und zur Begründung Kandinskys laue Haltung gegenüber dem Antisemitismus anführt, die Identifikation von Judentum und Kommunismus zurückweist und sich selber als einen prinzipiell unpolitischen Menschen beschreibt; darauf folgt ein Text von Brecht, der Faschismus und Antisemitismus als historisch zwingende Folgen des kapitalistischen Systems darstellt und im Kampf für den Kommunismus die einzige Möglichkeit sieht, den Faschismus nachhaltig zu bekämpfen; zum Schluß sieht man Dokumentaraufnahmen aus dem Vietnamkrieg und Zeitungsausschnitte über einen Prozeß, bei dem zwei KZ-Architekten freigesprochen wurden. Der Film zeichnet also, auf den Punkt gebracht, Faschismus, Rassismus und imperialistische Gewalt als notwendige Begleiterscheinungen des Kapitalismus – und agitiert uns, mit diesem verkommenen System endlich aufzuräumen. Es ist, nebenbei bemerkt, bei weitem nicht der beste Film von Straub und Huillet, die ihre Ideen oft genug weit subtiler dargestellt haben; im Vergleich zu BOWLING FOR COLUMBINE ist es aber ein Meisterwerk.

Warum? Zunächst: die EINLEITUNG ist ein logisch kohärent und stringent aufgebauter Film, in seiner dialektischen Gegenüberstellung von Schönbergs individualistischer Haltung und Brechts Denken in historischen Systemen und der Schlußpassage, die dann dokumentarische Beweise für Brechts Position anzuführen versucht. Er vertraut auf die Kraft seiner Argumentation (zumal die Strukturen des Films – und damit auch der Lenkung des Zuschauers – transparent gemacht werden) und auf die Intelligenz des Publikums, das diesem anstrengenden Film erst einmal folgen muß, anstatt uns das Hirn mit den billigen und sentimentalischen Tricks des Mr. Moore zuzukleistern. Der „Gegner“ (wenn wir Schönberg im Kontext dieses Films einmal so nennen dürfen) wird als würdiges Objekt einer Auseinandersetzung behandelt – nicht zufällig haben Straub und Huillet später zwei Schönberg-Opern verfilmt: die Faszination, die der Komponist auf die Filmemacher ausübt, ist auch in der EINLEITUNG ständig zu spüren – und nicht als Witzfigur à la Charlton Heston in BOWLING FOR COLUMBINE. Und die EINLEITUNG scheint mir nicht allein intellektuell, sondern auch emotional haushoch überlegen zu sein; denn anstelle der unbekömmlichen Mischung aus billiger Häme und Krokodilstränen, aus der Mr. Moore sein Werk angerührt hat, vibriert Straub/Huillets Film in starken und echten Gefühlen: Es ist ein Film über die Enttäuschung, daß der große und politisch durchaus weitsichtige Komponist Schönberg nicht die (in der Sicht der Schöpfer des Films) notwendigen Konsequenzen aus seinen Beobachtungen gezogen hat, und über die Empörung, die bei den Nachgeborenen aus dieser falschen Haltung entsteht. Und Empörung scheint mir doch eindeutig die bessere Haltung für einen Agitpropfilm zu sein als bemühte Witzigkeit.

Am Anfang der EINLEITUNG sieht man Jean-Marie Straub selbst, er steht in lockerer Sommerkleidung auf einem der sieben Hügel Roms, zu seinen Füßen die Ewige Stadt, er zündet sich eine filterlose Zigarette an und referiert dann mit seinem dicken französischen Akzent einige Fakten über Schönberg und seine „Begleitmusik zu einer Lichtspielszene“. Und die Pointe lasse ich mir natürlich nicht entgehen: Straub ist ein gutaussehender Mann, auf seine lässige, französisch-linksintellektuelle Art (man könnte ihn sich gut als Dozenten vorstellen, für den die jungen Geisteswissenschaftlerinnen aus seinen Seminaren heimlich schwärmen). Ob man das als Indiz dafür werten kann, daß es womöglich doch einen Zusammenhang zwischen Aussehen und Charakter gebe, sei jedem selber überlassen; wenn man will, kann man aber das Foto von Mr. Michael Moore aus dem „Zeit“-Feuilleton vom 21. November 2002 als Beweismaterial schon einmal sichern.

 

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