9 Tage im Leben eines Events, seiner Filme und seiner Menschen

Die 53. Berlinale zeigt ihr Gesicht

 

Der erste Tag der diesjährigen Berlinale beginnt mit einem echten Glücksgriff in filmischer Hinsicht und offenbart bereits einen Menschenschlag, der noch deutlich öfter und unangenehmer sein hässliches Haupt erheben wird. Während eine Bekannte freundlich fragt, ob sie den Hongkong-Film „Infernal Affairs“ trotz nicht vorhandener Presseakkreditierung sehen darf, drängeln sich die ebenfalls Unberechtigten mit einer Selbstverständlichkeit vorbei, als wären sie der Grund für die folgende Vorführung. Der Polizeifilm „Infernal Affairs“ entwickelt eine pessimistische Sichtweise auf menschliche Systeme, die dementsprechend günstig vorbereitet wurde. Andrew Lau und Alan Mak treiben das Spiel mit pervertierten Identitäten auf die spannende sowie bittere Spitze. Im Zentrum stehen ein Undercover-Cop, der in einer Triadenbande eingeschleust ermittelt, und ein Maulwurf bei der Polizei, der aus eben dieser Bande stammt. Während der verdeckte Ermittler in seiner vertrackten Situation langsam aber sicher in einen Zustand ewiger Hölle gerät, hat sein Gegenspieler die besseren Karten. „Infernal Affairs“ variiert das bekannte Thema der Opponenten aus verschiedenen Lagern, indem er es auf den Kopf stellt. Hier werden nicht nur wie sonst üblich die Grenzen zwischen Gut und Böse aufgehoben, sondern die Identitäten aufgelöst. Es stellt sich nicht mehr nur die Frage nach dem Sinn des Daseins, sondern die Frage nach der Beschaffenheit des Daseins selbst. Alan Mak und Andrew Lau inszenieren ihren Film effektiv schwungvoll.

 

Am nächsten Tag lockt der Wettbewerb mit Michael Winterbottoms „In this World“. Und wieder einmal hat der Brite ein echtes As im Ärmel. Auf DV gedreht nimmt der Film sich des Themas afghanischer Kriegsflüchtlinge an, die durch die Hilfe wechselnder Schlepper nach London gelangen wollen. Im dokumentarisch erscheinenden Handkamerastil, der in den Schlüsselszenen sehr geschickt inszeniert ist, erweckt Winterbottom die Tragik von der beschwerlichen Reise ins gelobte Land zum Leben. Machtvoll gibt er den Opfern kriegerischer Auseinandersetzungen eine Stimme. Dafür benötigt er nicht einmal eine polternde Überwältigungstaktik, die mit krachenden Symbolismen auftrumpft. Stattdessen beschränkt er sich darauf, die lange Flüchtlingsreise in ihrem schlichten aber bewegenden Wesen einzufangen. Dabei beherrscht Winterbottom das Spiel mit dem dokumentarischen Stil so gut, dass sich die klassische Wahrnehmung verändert. Er verdeutlicht das Persönliche im dokumentarischen Spielfilm und weist somit einen neuen Weg zur Deutung der Medienrealität. Da Michael Winterbottoms Werk um 9.00 Uhr gezeigt wurde, beginnt anschließend die Zeit sich auf die Wüste Berlin vorzubereiten. Der Tag wird seinen Durst fordern, also gilt es, sich mit erquickendem Labsaal zu versorgen. Wasser mit leichtem Geschmack steht zur Auswahl. Die Sorte Rosen-Granatapfel erscheint vielversprechend. Ganz anders als Winterbottoms Film, aber ebenfalls ausgezeichnet, präsentiert sich Zhang Yimous Wettbewerbsbeitrag „Hero“. Der chinesische Regisseur überrascht mit einer temporeich inszenierten Martial Arts-Legende um einen geplanten Königsmord im alten China. Neben brillant choreographierten Kämpfen von reiner Schönheit durchweht den Film eine visuelle Kraft, die sich in edlen Farbtableaus aus grünen, blauen und weiteren Pastelltönen ausdrückt. Dies alles steht im Dienste einer feinen politischen Parabel über Macht und Visionen. Direkt danach zeigt das Forum im Kino nebenan Jeff Laus Hongkong-Komödie „Chinese Odyssee 2002“. Die an sich belanglose aber sehr amüsante Komödie um einen chinesischen Herrscher (siehe „Hero“) entfaltet ihre volle Wirkung nur im Doppelprogramm mit Zhangs Film. Plötzlich ergibt der absurde sowie alberne Unfug irgendwie einen surrealen Sinn. In Worte fassen lässt er sich leider nicht, nur körperliche Erfahrung ist möglich. Wer genau hinsieht, kann außerhalb der Kinosäle in dunklen Ecken Menschen, von denen man eigentlich glaubte, ihnen bedenkenlos die Hand schütteln zu können, bei seltsamen Geschäften sehen. Ohne viele Worte, aber mit dem Ausdruck großer Erleichterung wandern glänzende Kunststoffflaschen von einer Tasche in die nächste. Unter nervösem Umsehen und ein bisschen kaltem Schweiß folgt darauf stets eine andere Flasche retour. Was hier noch wie die erschaudernde Realität der Anderen wirkt, wird einen selbst später einholen.

 

Stars gibt es dieser Tage in Berlin eine Menge. Jackie Chan ist da, weil im Panorama eine Dokumentation über seine Familie läuft. In der Nacht hat es geschneit. Berlin liegt am Samstagmorgen im weißen Kleid und sieht friedlich aus. Die Menschen auf der Berlinale sind es nicht. In Gedenken an die langjährige Filmredakteurin des Kölner Stadtanzeigers, Brigitte Desalm, welche Ende letzten Jahres verstorben ist, zeigt das Programm der Retrospektive George Cukors Klassiker „The Philadelphia Story“. Den sehr emotionalen Nachruf hält Thomas Koebner, der Desalm gut kannte. Nach einigen Minuten des Vortrags verlieren plötzlich zwei Individuen die Geduld und brüllen „Aufhören, Aufhören“. Die Selbstentmenschlichung mancher Leute hat eine neue Stufe erreicht. Zum Glück gab es vorher John Fords Stummfilm „The Four Sons“ zu sehen, ein wunderbares Drama über das Schicksal vierer Söhne in Bayern, die während des Ersten Weltkriegs unterschiedliches Glück haben. Während drei in ihrem Heimatland bleiben und eingezogen werden, gelingt es einem nach Amerika auszuwandern und sein Glück zu machen. Ford wirft einen genauen Blick auf die deutsche Herrenmenschenmentalität, welche die Herrschenden verinnerlicht haben. Auf dem Rücken der unschuldigen Bevölkerung spielt sich so eine Tragödie ab, die in genauer Analyse den Zustand der alten Welt am Anfang des 20. Jahrhunderts beschreibt. Während der herausragende Stummfilm nachwirkt, findet man sich plötzlich selbst in einer dunklen Ecke wieder. Wie in Trance greift die Hand in die Tasche, um das sprudelnde Gut auszutauschen. Der Grund für dieses Vorgehen liegt auf der Hand. Die Kühlschränke halten nicht nur Rosen-Granatapfel-Sprudel bereit, sondern zusätzlich einiges anderes. Darunter auch ein merkwürdiges Produkt mit dem Namen Kräuteressenzen. Das Wässerchen vermittelt einem bereits beim ersten Schluck den Eindruck, der Gaumen würde aromatisch abgeschmirgelt werden. Leider gibt es manchmal nichts anderes. Der Tauschmarkt der Getränke boomt.

 

Am Sonntag ragt Yasujiro Ozus bittere Familiengeschichte „Tokyo monogatari“ heraus. In der Inszenierung eines Generationskonflikts beweist Ozu seine Meisterschaft der genauen Beobachtung. Die Qualität des japanischen Regisseurs besteht vor allem darin, selbst in langen und langsamen Einstellungen sowie Sequenzen immer etwas Neues passieren zu lassen. Niemals fällt Ozu in das Stilmittel einer quälenden Nichthandlung. Bei ihm findet in jeder Minute eine Inszenierung der Menschen und ihrer Umgebung sowie ihrer Seelenlage statt. Diese Fähigkeit ist einzigartig.

 

Der Montag hält mit George Clooneys Regiedebüt „Confessions of a Dangerous Mind“ im Wettbewerb den Film des Festivals bereit. Das Portrait des Menschenverächters und angeblichen CIA-Killers Chuck Barris, dessen Fernsehshow-Konzepte auch hierzulande bekannt sind (z.B. Herzblatt), ist nicht nur formidabel inszeniert, sondern offenbart auch tiefe Wahrheiten. Der Vorfall während der Desalm-Gedenkveranstaltung als Spitze des Eisbergs ähnlicher Geschehnisse zeigt, dass Barris mit seinem Menschenbild nicht ganz Unrecht hat. Das Drehbuch von „Confessions of a Dangerous Mind“ schlägt virtuos den Bogen von der selbstverständlich unglücklichen Jugend eines pubertierenden Jungen, der niemals ein Mädchen abbekommen hat, über die enthusiastischen Showvisionen bis zur erfolgreichen Karriere. Barris gleitet innerhalb des Films in ein zerrissenes Leben aus zwei Identitäten herab, wobei völlig offen bleibt, ob er wirklich als Auftragskiller tätig ist oder ob er sich das nur zusammenphantasiert. Die Kamera übersetzt diesen Schwebezustand kongenial in ein visuelles Konzept der Zweideutigkeit. Immer wieder bleiben wichtige Personen im Schatten, so dass sich der Zuschauer zwar denken kann, was passiert, aber Sicherheit gibt es nicht. Geschickt nutzt Clooney das vorhandene Material, um die Interpretation wieder an das Publikum weiter zu reichen. Ein faszinierendes Menschenportrait anderer Art präsentiert Richard Kwietniowskis „Owning Mahowney“. Philip Seymour Hoffman brilliert hier als obsessiver Spieler ebenso wie John Hurt als diabolischer Casino-Leiter. Danach geht es ab in einem Shuttle zurück zum Potsdamer Platz, um nicht ganz ohne Friedrich Wilhelm Murnau aus Berlin abzureisen. Ihm ist in diesem Jahr die Retrospektive gewidmet. „Der brennende Acker“ heißt das Werk, das zu später Stunde um 22.30 Uhr über die Leinwand im kleinen Cinemaxx-Saal flimmert. Es ist immer sehr schwierig, einen Stummfilm zu sehen, wenn man müde ist, noch schwieriger ist es aber, einen Stummfilm zu sehen, der sich wohlig dem eigenen Erschöpfungszustand anpasst. Das Drama, welches Murnau erzählen möchte, gerät ihm soweit aus der Hand, dass er sich in quälende Nullstellen flüchtet. Man hat immer wieder das Gefühl, er hielte die Geschichte für mehrere Minuten an, um sie dann plötzlich wieder aufzunehmen. Oder anders gesagt: Murnau wäre heutzutage vermutlich nicht der Regisseur, bei dessen DVD-Veröffentlichungen man Deleted Scenes finden könnte, da er sie alle im Film verwendet hat. Überhaupt ist Murnau ein eher schwieriges Thema. Von den drei zufällig ausgewählten Filmen, die ich mir angesehen habe, waren zwei schlecht. So auch der am nächsten Tag gezeigte „Der letzte Mann“. Nach der Vorführung fragt man sich wirklich, wie bestimmte Filme in der Geschichtsschreibung ihren guten Ruf erhalten. „Der letzte Mann“ hat nichts, was einen guten Film ausmachen würde. Emil Jannings als Hauptdarsteller, der einen Hotelportier spielt, welcher aus Altersgründen zum Toilettenputzer degradiert wird, woraufhin seine Umwelt mit extremer Ablehnung auf ihn reagiert, ist völlig überfordert. Er gestikuliert und grimassiert auf eine extreme Weise, wie sie auch in einem Stummfilm überflüssig ist. Seine Figur wird so zur Parodie eines Pantomimen. Wenn er aufs Absurdeste gramgebeugt durch die Gassen wankt, nachdem er degradiert wurde, dann tut Jannings nicht nur so, als gebe es keinen Ton, sondern auch so, als gebe es keine Kulissen um ihn herum und keine Handlung vor seinem Wanken. Er spielt jede Szene wie einen ganzen Film, dem jeder Zusammenhang fehlt. Damit zerschlägt er die Glieder einer dramaturgischen Kette, bis nur noch seine Person übrig ist. Aber auch Murnaus Inszenierung erscheint auf fatale Weise banal. Symptomatisch für seine Handschrift ist der Schluss des Films: In einem Happy End, das an den eigentlichen Niedergang der Hauptfigur angehängt wird, weil der Filmemacher die Geschichte so nicht stehen lassen möchte, sieht man über etwa 10 Minuten die dekadente Völlerei des zu Reichtum gekommenen Jannings in seinem ehemaligen Hotel. Neben der plumpen Symbolik dieser Szene gelingt es Murnau auch nicht, sie in ihrem Maß zu begrenzen. Die Völlerei der Hauptfigur überträgt sich auf die endlose Zerdehnung der Szene, denn es ist spätestens nach zwei Minuten klar hat, worum es hier geht. Hier offenbart sich ein vollgefressenes, selbstzufriedenes Verständnis eines Filmemachers, der sich in seine eigenen Ideen verliebt und sich in ihnen verliert. Prätentiös ausgewalzte Banalität ist wahrscheinlich so ziemlich das Schlimmste, was einem Film passieren kann. Dennoch gelang es,  auch einen guten Murnau-Film zu sichten. „Die Finanzen des Großherzogs“ zeigt den Regisseur auf der Höhe seines Könnens. Die Groteske um einen kleinen Inselstaat, dessen Großherzog von unterschiedlichen europäischen Machthabern umworben wird, ist auch heute noch genauso frisch wie damals. Eine ausgesprochen temporeiche Inszenierung verbindet sich mit einem Komödienverständnis, das sich von der platten Burleske weitgehend fern hält zu einem treffsicheren Zeitportrait. Das Drehbuch nimmt Machtstreben sowie politische Ränkespiele aufs Korn und verarbeitet seine Themen in szenisch hervorragend ausgearbeiteter Situationskomik. Die Schwächen der müden Dramen Murnaus sind hier wie weggewischt. Klassiker ganz anderer Art konnte man in diesem Jahr auch im Forum sehen. Eine malaysische Firma hat sich die Weltverwertungsrechte für zahlreiche Shaw-Brothers-Produktionen gesichert. Fünf ausgewählte Werke in teilweise restaurierten Kopien waren in Berlin zu sehen. Den Anfang machte am Dienstag King Hus Martial Arts-Film „Come Drink with Me“. Er erzählt die einfache Geschichte einer Gruppe Rebellen, die im alten China einen hoch stehenden Beamten entführt haben, um damit ihr eingekerkertes Oberhaupt freizupressen. Für die schwierigen Verhandlungen schickt der Kaiser einen kampferfahrenen Spezialisten in die entlegene Provinz, der die Angelegenheit aus der Welt schaffen soll, ohne dass der gefangene Rebellenchef freigelassen werden muss. Hu zeigt, was sich mit brillantem inszenatorischem Geschick aus einer Geschichte rausholen lässt, welche sich auf dem Papier zunächst recht nüchtern liest. Wer seinen Film „Die Herberge zum Drachentor“ gesehen hat, weiß, was der chinesische Regisseur in einem Gasthaus leisten kann. Nicht zufällig ist es auch in „Come Drink with Me“ eine Gasthauszene, die zu den besten des Films gehört. Der Abgesandte des Kaisers erscheint in der Provinz und möchte sich im örtlichen Wirtshaus bei ein bisschen Wein ausruhen. Natürlich sind auch Rebellenvertreter allgegenwärtig. Jeder Fremde erscheint ihnen verdächtig, so auch der Abgesandte. Langsam sorgen sie dafür, dass alle unbeteiligten Gäste den Schankraum verlassen, während der Abgesandte seelenruhig seinen Wein bestellt. King Hu sorgt hier zum einen für einen wohl austarierten Spannungsaufbau, der den Zuschauer in eine ständige Erwartungshaltung bringt, wann sich die Situation entlädt, zum anderen reflektiert er die scheinbar eindeutigen Machtverhältnisse in der Provinz, während der Abgesandte langsam eingekreist wird. Dass in der anschließenden Kampfszene mit einem dramaturgischen Hackentrick diese scheinbare Eindeutigkeit in Frage gestellt wird, versteht sich von selbst und natürlich gehört King Hu zu den Regisseuren, welche die furiose Inszenierung der Martial Arts beherrschen.

 

Am Mittwoch laufen mit der verfilmten Peking-Oper „The Kingdom and the Beauty“ sowie dem klassischen Musical „Hong Kong Nocturne“ zwei weitere Shaw-Brothers-Werke. Während ersterer mit seiner speziellen Melodieführung sicherlich nichts für jedermanns westliche Ohren ist – wer jedoch dafür ein Herz hat, wird mit einer wundervoll süßlichen Liebesgeschichte zwischen dem Kaiser und einer Weinausschankangestellten vom Lande belohnt – präsentiert sich das Musical mit weniger exotischen, mitreißenden Melodien. Es handelt sich um den geglückten Versuch, in Hongkong an die Erfolge amerikanischer Musicals anzuknüpfen. Ein Zauberer peppt seine Show mit hübsch anzusehenden Tanz- und Gesangseinlagen seiner drei Töchter auf. Obwohl ihm auch klar sein müsste, dass seine Töchter maßgeblich zu seinem Erfolg beitragen, sieht er sie nur als Anhängsel und betrügt sie um ihren wohlverdienten Anteil, den er lieber einer jungen Frau zuschanzt. Er hofft, dass diese seine Liebhaberin wird, aber immer wenn es körperlich zu werden droht, erfindet sie Ausreden, um zu verschwinden. In Wahrheit nimmt sie den alten Mann zusammen mit ihrem wirklichen Freund nur aus. Schließlich begehren die Töchter auf, indem sie sich von ihrem Vater lossagen. Viel Emotionen, großer Kitsch und ein berührendes Familiengeflecht sorgen für einen wundervollen Film, in dem das Scheitern die Menschen wieder auf den rechten Weg bringt.

 

Der Donnerstag hält mit „Intimate Confessions of a Chinese Courtesan“ eine merkwürdige Mischung bereit, ein Bordellrachedrama. Eine junge, attraktive Frau wird in ein Bordell entführt, wo sie die Betreiber für die Kunden gefügig machen. Nach anfänglicher Widerborstigkeit bricht ihr Widerstand, weil sie in der neuen Position die Chance für ihren Rachefeldzug sieht. Mit körperlichem Einsatz sowie falschen Verführungssäuseleien nutzt sie ihren Vorteil. Der Film überzeugt vor allem durch die entschlossene Zielstrebigkeit einer Rache, welche die gegebenen Verhältnisse perfekt für den eigenen Vorteil nutzt. Hier offenbart sich eine geschickte Reflektion über die menschliche Anpassungsfähigkeit sowie den Überlebenswillen. Gleichzeitig torpediert der Film über die Schmeicheleien eitles Geckentum, das sich zugegebenermaßen mit einem seltsamen Humor in den Film geschlichen hat. In den Kampfszenen ist „Intimate Confessions of a Chinese Courtesan“ solide bis spannungsreich atmosphärisch, wenn Schnee hinzukommt.

 

Einen der besten Filme des Wettbewerbs konnte man am Freitag sehen. Oscar Roehler hat „Der alte Affe Angst“ dabei. Darin behandelt er sehr ähnliche Probleme wie zuletzt in dem zu Unrecht untergegangenen „Suck My Dick“. Im Zentrum steht hier wie dort ein Mann, der psychologisch motivierte sexuelle Probleme gegenüber dem anderen Geschlecht hat und sich deswegen behandeln lässt. Während der Schriftsteller in „Suck My Dick“ eines Tages ohne Geschlechtsteil aufwacht, so dass er Schwierigkeiten mit seinen Trieben hat, kann der Theaterregisseur in „Der alte Affe Angst“ seine Sexualität nur noch bei Prostituierten ausleben. Unter den ansonsten eingeschlafenen Aktivitäten im Bett leidet seine derzeitige Partnerin. Gemeinsam wollten sie in ihrer frisch bezogenen Berliner Wohnung einen Neuanfang machen. Er hat aufgrund seiner Probleme mehrere gescheiterte Beziehungen hinter sich, sie kann eine eindringliche Selbstmordversuchbiographie aufweisen. Während „Suck My Dick“ hauptsächlich als böse Satire auf den Typus des leidenden Künstlers, den in seiner Rolle irritierten Mann und die Kulturschickeria funktionierte, macht Roehler im Vergleich dazu in seinem neuen Film ernst. Der Humor ist weitgehend den bitteren Problemen in einem Beziehungsdrama gewichen, das er mit aller Konsequenz inszeniert. Vereinzelte satirische Elemente, etwa wenn Herbert Knaup auf einer Party die Hauptfigur erst mit einer überirdischen Menge Koks versorgt, um sie dann wild fabulierend nach Monte Carlo einzuladen, sorgen kaum für Erleichterung. Stattdessen findet Roehler intensive Szenen für die Angstzustände, mit denen sich das Paar abmüht. Der mögliche Verlust des Partners treibt den Mann zu immer verzweifelteren Aktionen, die ihn in selbsterniedrigenden Situationen wie zum Beispiel ruppigem Sex in einem schäbigen Stripladen zurücklässt. Roehler treibt das an die Nieren gehende Drama über die Ängste in uns allen bis zur endgültigen Lebensbedrohung. Nur selten bekommt man einen derartig reinen und emotional erdrückenden Film zu sehen. Nach einer solchen Erfahrung liefert Oliver Stone den richtigen Abschluss. Im Panorama ist seine Interviewdokumentation über Fidel Castro „Commandante“ zu sehen. Die Verantwortlichen dieser Sektion handeln sich mit ihrer Demonstration der Stärke eine Nominierung für einen fiktiven Chuck Barris-Gedächtnispreis ein. Selbstverständlich handelte es sich um eine Pressevorführung, bei welcher die Presse absoluten Vorrang hat. Dennoch bleibt die Frage bestehen, warum man zum offiziellen Beginn der Vorstellung, als kein Pressevertreter mehr kommt, um Einlass zu begehren, die freien Plätze im Saal nicht auffüllt. Selbst ein Jury-Mitglied wird zum Warten vor der Tür verurteilt. Noch fraglicher ist, warum man den Beginn der Vorführung dieses wahrlich nicht langen Films, nicht einfach fünf Minuten nach hinten verschiebt, wenn man schon der Meinung ist, dass für Pressevertreter keinerlei Pünktlichkeitspflicht besteht. Stress ist sicherlich eine Erklärung für das kurzfristige Abschalten menschlicher Impulse, eine Entschuldigung ist es aber nicht. Nach etwa 10 Minuten ist dann der Spuk vorbei und die selbstverständlich immer noch freien Plätze – es kam wie bereits erwähnt auch keine Menschenseele mehr – dürfen von den Wartenden belegt werden. Der Film entschädigt mit seiner herzlichen Art für die Zustände vor der Tür. Oliver Stone sucht erwartungsgemäß nicht unbedingt den kritischen Zugang zu Fidel Castro. Hier haben sich zwei Menschen gefunden, die durch die unbeirrbare Art, ihren Weg zu gehen, ohne auf Konventionen zu achten, verbunden sind. Der zwiespältige Blick, mit dem Stone seinem Heimatland Amerika stets begegnete, macht ihn empfänglich für den größten ohnmächtigen »Feind« der USA. Der faszinierende Inselstaat, der alleine aufgrund seiner geographischen Nähe sowie des symbolträchtigen politischen Systems immerwährenden Drangsalierungen durch die USA ausgesetzt ist, erwirbt sich eine gewisse Sympathie im Weltbild Stones. Wenn sich die beiden Männer am Ende des Films mit einer herzlichen Umarmung verabschieden, dann ist alles echt. Hier ist eine Freundschaft entstanden. In diesem Sinne beleuchtet „Commandante“ den Menschen Castro, der als freundlicher, älterer Herr erscheint, ein Mann, der sich voller Güte um sein Land und sein Volk kümmern muss.

 

 

Stefan Dabrock

 

 

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